In einer Folge der Kultserie Unsere kleine Farm nimmt Mary an einem Geschichtswettbewerb teil; Schwester Lora ist von der Idee keinesfalls begeistert. „Geschichte ist nicht mein Lieblingsfach! Da geht es eh nur um tote Menschen“, sagt Dreikäsehoch. Angenommen, dass ein Stück Wahrheit dieser Aussage inhärent ist, beschäftigt sich diese Arbeit mit einem historischen Kapitel, das einer Infektionskrankheit des 20. Jahrhunderts gewidmet ist, deren Todeszahlen [1] so stark variieren wie bei keiner anderen Pandemie.
Sie trägt die verwirrende Bezeichnung „Spanische“ Grippe bzw. Influenza und soll schätzungsweise das Leben von circa 50 Millionen [2] Menschen gekostet haben. Eine Veröffentlichung von Johnson und Mueller – die bisher zuverlässigste Quelle – schließt doppelte Sterbefälle nicht aus.
Die US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention hat großen Respekt vor dieser Pandemie, nennt sie, wie viele Historiker_ innen, Die Mutter aller Pandemien und betont: »Understanding the 1918 pandemic and its implications for future pandemics requires careful experimentation and in-depth historical analysis«.[3]
Um die 1918er Pandemie also zu verstehen – damit ähnliche [4] adäquat bekämpft werden, wie etwa die aktuelle Corona bzw. Covid-19, die seit einem Jahr wütet und a dato den Tod von circa 2 Millionen Menschen verursacht hat – ist sorgfältiges Experimentieren und eine tiefgründige historische Analyse gefragt.
Mit diesem Beitrag wird Letzteres versucht.
Der etymologische Ansatz
Zuerst wäre ein kurzer etymologischer Hinweis hilfreich. Im deutschsprachigen Raum wird oft von einer Seuche gesprochen. Das kommt vom Mittelhochdeutschen „siuche“, das auf das Althochdeutsche „siuhhī“ {Krankheit} zurückgeht. »Eine Seuche ist eine Infektionskrankheit, die sich rasch ausbreiten kann und viele Menschen betrifft. Hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung von Seuchen unterscheiden Mediziner drei Formen: Pandemie, Epidemie und Endemie«. [5] Eine Pandemie ist eine kontinentübergreifende Infektionskrankheit, die über einen begrenzten Zeitraum stark gehäuft auftritt, während eine Epidemie – die naturgemäß viel häufiger auftritt – sich auf einzelnen Regionen beschränkt. Je nach Dynamik wird bei Epidemien zwischen einer Explosivepidemie [die sich wie die Grippe plötzlich und rasch über Luft, Wasser, Nahrung ausbreitet; die Erkrankungszahlen steigen steil an und fallen am Ende rapide ab] und einer Tardivepidemie [die wie der HIV-Erreger über direkten Kontakt übertragen wird; die Zahlen steigen langsam an und fallen auch nur langsam wieder ab] unterscheidet. Eine Endemie wiederum tritt dauerhaft, zeitlich unbegrenzt, und in einer bestimmten Region auf. Ein Beispiel dafür ist das Gelbfieber im (sub-)tropischen Afrika und in Südamerika. [6]
Zu den verschiedenen Benennungen
Hinsichtlich der Krankheitsnamen dürfen wir uns nicht verwirren lassen. Oft gehen Namen nicht auf das „Entstehungsland“ [7] zurück, sondern beziehen sich auf historische Ereignisse, wie z.B. Krankheiten, die in Kriegszeiten abermalig den Namen des Feindes annahmen. So hieß beispielsweise die Geschlechtskrankheit Syphilis je nach Region und Kriegsgegner Franzosenkrankheit, Polnische- bzw. Deutsche Krankheit oder Chinesisches Himmelsstrafengeschwür und dienten einer Rufschädigung [8]. Ganz anders ist es mit der so genannten „Spanischen“ Grippe, über die wir – auch wenn 100 Jahre vergangen sind – immer noch Einiges nicht wissen; auch Primärquellen wie Zeitungsartikel und Fotos sind rar. Der Grund? Zensur – ja, in Kriegszeiten wird sogar bei Krankheiten zensiert.
Die virale Pandemie brach nach dem Motto „Ein Unglück kommt selten allein“ in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges aus. Im Frühling 1918 befanden sich die meisten Länder – anders als das neutrale Spanien – immer noch in einer blutigen Auseinandersetzung, durch die etwa 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. An der – wie sie offiziell heißt – Influenza A-Pandemie, »[sollen es] allein 17 Millionen auf dem indischen Subkontinent und im zerfallenden russischen Imperium gewesen sein, wo die Krankheit allerdings nicht allein als Todesbringer auftrat«. [9] Als gefährliche Feinde im Ersten Weltkrieg galten ebenfalls Typhus, Ruhr, Cholera, Fleckfieber, Pocken, Malaria und, vor allem, Läuse. [10]
Um die Moral und das Narrativ aufrechtzuerhalten, Deutschland sei unbesiegbar, wollte man der gegnerischen Seite nicht erlauben, zu glauben, dass es Schwächen gab. Nachdem aber die Russen ausgestiegen waren, standen die Deutschen den Franzosen und Engländern allein gegenüber. Der Eintritt der USA, anfangs von Deutschland massiv unterschätzt, gab dem Kriegsverlauf eine wichtige Wende. In großen Massen kamen die US-Soldaten und brachten diese Krankheit mit. Das sollten die Deutschen nicht erfahren. Es wurde so gut es ging vertuscht und unter Zensur gestellt. Doch es gab Kriegsgefangene, die in deutsche Lager kamen. Und hier wurde zum ersten Mal über die Existenz der Seuche gesprochen[11].
Es wurde aber nicht nur erzählt; es kam zeitverzögert zu einer Masseninfektion deutscher Truppen. Diese Verzögerung gab der alliierten Propagandapresse die Vorlage, zu behaupten, die Seuche würde von Deutschland, etwa über das Medikament Aspirin [12], ausgelöst. Dies hing vermutlich damit zusammen, dass von deutscher Seite die Kriegsführung mit Giftgas begann. Daraus resultierte der Verdacht, ein biologischer Krieg Made in Germany sei im Gange. »In Großbritannien wurde die Krankheit dagegen als „Flandrische Grippe“ bezeichnet, weil sich viele Soldaten in den Schützengräben von Flandern ansteckten« [13].
An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Grippe in Spanien Soldado de Nápoles (Soldat von Neapel) hieß, da sie sich – ähnlich schnell wie ein damals gleichnamiges populäres Lied [14] – verbreitete. Dies zeigt, so Antonio González, wie die Menschen aus Madrid „Los madrileños“ – die ein Talent zum Sarkasmus haben – auf die Krankheit reagiert haben, bevor sie ihre verheerenden Konsequenzen spürten. Allerdings könnte man dem Journalisten hier widersprechen und darauf hinweisen, dass dieses Verhalten nicht nur den erfinderischen Menschen aus Madrid zugeschrieben wird, sondern eine alte Tradition hat, die sich bis zu Corona-Zeiten zieht.
Der Germanist Peter Schlobinski hat mit einer Gruppe von Sprachenwissenschaftler_ innen die aktuellen Corona-Witze untersucht und weist darauf hin, dass Humor als Ventil dazu dient, eine schwierige Zeit kreativ zu bewältigen. [15] Was bewältigt wird, sind Sorgen und Ängste; Erleichterung und emotionale Distanz zur bitteren Realität [16] werden erzeugt, so Eva Ullmann, Leiterin des Deutschen Instituts für Humor. Dem könnte man hinzufügen, dass dieses humorvolle Verharmlosen heutzutage auch als eine Reaktion auf einen öfters von manchen klassischen Medien erzeugten und via soziale Medien reproduzierten Terror sowie auf eine subtile Manipulation verstanden werden kann.
Made in USA
Das sich in der Neutralität [17] befindende Land Spanien war von der kriegsbedingten Zensur nicht betroffen und machte keinen Hehl aus Zahlen und Informationen. Der einen Meldung von der iberischen Halbinsel folgte die andere. Ein wichtiger Reuters-Rapport berichtete: Spaniens König Alfons XIII blieb davon nicht verschont. Und so etablierte sich der Name „Spanische“ Grippe, obgleich Patient Null in den Vereinigten Staaten registriert worden war und mit den US-amerikanischen Truppen nach Europa kam. Selbst US-Präsident Woodrow Wilson litt an der Krankheit, als er zu den Verhandlungen von Versailles ging. »Auch Donald Trumps deutscher Großvater starb an der Grippe und hinterließ seiner Witwe ein kleines Vermögen, das diese in der neuen Heimat Amerika in Immobilien investierte« [18].
Demzufolge sollte die 1918er Influenza eher „Nordamerikanische“ Grippe genannt werden. Der Geburtsort liegt im Mittleren Westen der USA, genauer im Camp Funston im Staat Kansas, wo Soldaten für ihren europäischen Einsatz ausgebildet wurden. Dort meldete sich am Morgen des 4. März 1918 der Armeekoch Albert Gitchell mit den üblichen Symptomen auf der Krankenstation. Bis zum Mittag wurden 100 weitere Fälle registriert. Es könnten Viren gewesen sein, die sich in Vögeln oder Schweinen entwickelten und dann auf den Menschen übersprangen. Am Ende forderte die Grippe in den USA 650.000 Menschenleben, in Deutschland etwa die Hälfte.
Zur Vorgeschichte
In der Historiographie der hier behandelten Pandemie ist es wichtig, die damalige „Risikogruppe“ zu definieren; sie traf gesunde Menschen im Alter von 20 bis 40 Jahren. Laura Spinney [die Welt im Fieber] argumentiert: »Dadurch verloren viele Familien ihre Hauptverdiener. Viele Kinder und alte Menschen befanden sich dadurch plötzlich in einer sehr schwierigen Lage. Oft landeten sie im Armenhaus oder auf der Straße. Wir wissen immer noch nicht genug über diese indirekten Opfer der Grippe, aber es gab Millionen davon«. [19]
Um dies zuzuordnen, muss man sich in die Jahre von 1889 bis 1895 zurückversetzen. In diesem Zeitraum tobte eine andere Influenza, die in die Geschichte als „Russische“ Grippe oder „Blitz-Katarrh“ einging, und gegen die die beim Ausbruch der „Spanischen“ Grippe ältere Menschen immun waren, weil sie sich damals vermutlich bereits infiziert hatten und über die entsprechenden Abwehrkräfte verfügten [Kreuzimmunität]. Bei jungen Menschen hingegen kam es zu einer Überreaktion des Immunsystems [Zytokinsturm], die lebensbedrohlichen Komplikationen hervorruft. In einer wissenschaftlichen Arbeit aus 2019 heißt es:
»Influenza and pneumonia fatality rates in those aged 15–34 years were more than 20 times higher than in previous years and absolute risk of influenza-related death was higher in those < 65 years of age than those > 65 years old. It is still not fully understood why this occurred, but it is possible that an antigenically similar influenza strain circulated prior to 1889, providing a level of protection against the novel H1N1 pandemic strain to those born prior to 1889«. [20]
Eine heimtückische Krankheit, die naiv unterschätzt wurde
Der Berliner Historiker und Oberarzt der Charité, Wilfried Witte sagte in einem Interview mit dem Ärzteblatt:
»Es habe damals alles relativ harmlos begonnen. Während der ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918 erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber relativ wenige starben. Im Herbst nahm jedoch eine weitere, tödliche Welle ihren Lauf. Gerade dort, wo Menschen geballt aufeinandertrafen, wie in Rekruten- und Kriegsgefangenenlagern, hätten sich auf einen Schlag zahlreiche Menschen angesteckt. „Die meisten sind an einem akuten Lungenversagen gestorben“ […] Auch hatte sich die Haut der Erkrankten oft dunkelblau verfärbt – Zeichen der Unterversorgung mit Sauerstoff, wie Witte sagt. Wegen des fast schon schwarzen Teints hätten sich die Menschen an die Pest erinnert gefühlt. Zeitgenössische Ärzte hielten ein „Grippe-Bakterium“ für die Ursache, obwohl man diese Theorie damals schon anzweifelte. Der wahre Auslöser, das Influenzavirus, sollte später entdeckt werden – 1933«. [21]
So blieben die Behandlungsversuche meist erfolglos. Da die Medizin von einer Kreislaufstörung ausging, wurde sogar das giftige Strychnin verabreicht, das in geringer Dosierung kreislauffördernd ist. Experimentiert wurde auch mit Aspirin, Heroin, Morphium, Quecksilber und Whiskey [22] ; empfohlen wurde Bettruhe, Nasenduschen und Inhalationen, da die Symptome meistens klassisch waren: Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen. Die Menschen vertrauten die Medizin nicht, der Spiritismus fand wieder verstärkt Anhänger.
Nach dem Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 zwischen dem Deutschen Reich und den beiden Westmächten Frankreich und Großbritannien gingen die Menschen massenhaft auf die Straße, um den langersehnten Frieden zu feiern. Diese Massenversammlungen, ähnlich wie die im Rahmen der Russischen Oktoberrevolution, waren genau das, was das Virus brauchte, um sich auszubreiten; auch die hygienischen Standards – vor allem in überfüllten Kasernen – waren damals anders. Aber auch die Regierungen reagierten spät. Erst als die zweite Influenzawelle ausbrach – im August stieg an der US-Ostküste die Opferzahl von 300 auf 12.000 binnen eines Monats –, erkannten die Behörden den Ernst der Lage.
»Die Behörden haben spätestens bei der bei der zweiten Influenzawelle den Ernst der Lage erkannt. Nun werden Alarmsysteme für Grippefälle eingeführt, über Häfen und Bahnhöfen Quarantänen verhängt, Isolierstationen in Spitälern eingerichtet. Die Lösung heißt «social distancing», also keine Massenansammlungen mehr: Schulen, Theater, Märkte und Kirchen bleiben vorübergehend geschlossen. Der Gebrauch von Gesichtsmasken und Desinfektionsmitteln wird empfohlen oder gar gesetzlich vorgeschrieben, um die Übertragungsraten einzudämmen. In den USA verbreiten Schilder die Warnung «Spucken bedeutet Tod!», in der Schweiz wird für «Grippsano» geworben, einen «Telephon-Desinfektor». Das öffentliche Leben erlahmt. Doch die ergriffenen Maßnahmen können die weitere Ausbreitung der tödlichen Krankheit bestenfalls verzögern, nicht aber verhindern«. [23]
Frühzeitig wurden Maßnahmen fast nur in San Francisco ergriffen, die Stadt verzeichnete die geringste Ausbreitungsrate und wurde, was die Zahlen betraf, vom Vorbild, zum Vorreiter. Es kam zu einer Lockerung, die Menschen waren euphorisch, schmissen ihre Masken weg und feierten auf der Straße. Diesmal, um zu demonstrieren, dass ihre Bürgerrechte verletzt wurden. Doch das Virus kehrte zurück, Versammlungsverbote und Schulschließungen wurden wieder Alltag. Städte wie St. Louis setzten auf Eindämmung und Quarantäne und schlossen Schulen, Kinos, Bibliotheken und Kirchen. Die Sterbezahlen halten sich im niedrigen vierstelligen Bereich. Metropolen wie Philadelphia reagierten dagegen anders. Im Frühherbst fand sogar eine große Militärparade statt. Innerhalb einer Woche starben dort fast 5.000 Menschen und nach kürzester Zeit mehr als 12.000. Schlussfolgernd geht man aus von einer Ersten Welle (die die Charakteristika einer Grippe hatte aber nicht richtig zugeordnet wurde), von einer Zweiten Welle (mit richtiger Zuordnung und fatalen Folgen) und einer dritten Welle (mit drastisch verändertem Krankheitsverlauf).
Wie die Grippe vermutlich zur Befreiung Indiens führte
Eine ansteckende Krankheit stellt eine Gesellschaft vor großen Herausforderungen und ist mit vielen und fatalen Konsequenzen in allen Bereichen des Alltages verbunden. Im Fall Indiens, argumentiert Laura Spinney in ihrem Buch Die Welt im Fieber, könnte sie sogar zur Unabhängigkeit des Landes beigetragen haben – auch wenn diese erst 30 Jahre später erklärt wurde. Denn als die Menschen massenhaft starben, wurde ihnen klar, dass die britische Kolonialmacht sich keinesfalls um sie kümmerte, und so begannen sie, Mahatma Gandhi zu folgen.
Der These kann man allerdings widersprechen und daran erinnern, dass die „Spanische“ Grippe zwar einer der Auslöser war, doch lange nicht die einzige Erfahrung von Vernachlässigung, die die indische Bevölkerung mit ihren Eroberern gemacht hat. In Bengalen hatte man z. B. mehrere Hungersnöte erlebt; eine davon kostete 20 Millionen Menschen das Leben. In dem Falle glänzten die Briten auch nicht besonders durch Unterstützung der lokalen Bevölkerung. Das war für viele ein Erweckungserlebnis und gab ihnen die Hoffnung, dass asiatische Truppen gewinnen konnten. Die „Spanische“ Grippe hat ihren Anteil daran, denn sie rückte das europäische Versagen in den Vordergrund und trug zur Entmystifizierung der unbesiegbaren Europäer bei, was das Selbstbewusstsein der Unterdrückten sowie die antikolonialen Bewegungen in den 1920er Jahren stärkte und die anschließenden Unabhängigkeitsbewegungen triggerte.
Cum Minerva, tu quoque manus move | God helps those who help themselves
Diese lange Reise ins Jahr 1918 diente dazu, alles was wir in Corona-Zeiten erleben und uns angesichts einer nie zuvor gegebenen Informationsflut überfordern, besser zu verstehen.
Einst Fremdwörter wie „Shutdown“, „Lockdown“, „Homeschooling“, „Quarantäne“ gehören seit Corona-Ausbruch zum Alltag und sind in aller Munde. Auch Ausgangsperren und Versammlungsverbote, die wir nur aus autoritären Regimen [siehe Maßnahmen, die in Südeuropa notverordnet wurden (Verlassen der Wohnung nur mit Sondergenehmigung, am Wochenende nur bis 18 Uhr)] kannten, wurden peu à peu akzeptiert. Am Anfang stießen die notwendigen Maßnahmen auf Kritik, doch ihre Wirkung – nehmen wir uns die 1918er Pandemie als Beispiel – kann man neben einer pharmazeutischen/medikamentösen Lösung nicht bezweifeln. Dies bewiesen die Forscher Markel, Lipman und Navarro in ihrer Studie im Jahr 2017:
»These findings demonstrate a strong association between early, sustained, and layered application of nonpharmaceutical interventions and mitigating the consequences of the 1918-1919 influenza pandemic in the United States. In planning for future severe influenza pandemics, nonpharmaceutical interventions should be considered for inclusion as companion measures to developing effective vaccines and medications for prophylaxis and treatment«. [24]
Und irgendwann lernen wir mit den Mikroorganismen zu leben, da wir sie auf ihrer langen Reise stets begleiten. Die Erreger übertragen sich, werden abgeschwächt, kehren mutiert zurück [siehe „Asiatische“ Grippe 1957/58, „Hongkong“ [25] Grippe 1968/1970, die zweite „Russische“ Grippe 1977/1978] und passen sich schließlich am menschlichen Körper an. Es kommt letztendlich zu einer Art Symbiose.
Denn niemand will in diesem Leben allein und einsam sein – Viren auch nicht.
AutorInnen:
Johanna Panagiotou (aka Vitoria Mali) ist Doktorandin am Amerika-Institut der LMU, wo sie über Frauen-Biographien im Kalten Krieg und die linke Geschichte der Vereinigten Staaten forscht, sowie Dozentin für Kulturanthropologie an der Volkshochschule Ansbach.
Dr. med. Thanasis Bagatzounis ist Radioonkologe, Leiter der Strahlentherapie im Klinikum Ansbach, Gründer der Initiative zur Erhaltung eines Protonen-Therapiezentrums im Herzen Bayerns und ehemaliger Galerist.
Herzlichen Dank an Prof. Dr. Michael Hochgeschwender für den wertvollen Input.
Lektorat: Edit Engelmann
Notizen/Literatur:
* Kulturgeschichte
Der Begriff Kulturgeschichte wird hier im Sinne von „Gesamtzusammenhang der Lebensformen und Denkweisen“ verwendet. Im Zusammenhang mit Medizin vgl. Hofer, Hans-Georg; Sauerteig, Lutz. (2007). Perspektiven einer Kulturgeschichte der Medizin / Perspectives of a cultural history of medicine. Medizinhistorisches Journal. 42. 105-41. Doi: 10.2307/25805420.
[1] Wie auch im aktuellen Corona-Diskurs fragt man sich zurecht, ob jemand an oder mit der Krankheit gestorben ist. Die Frage lässt sich schwer beantworten und macht die Registrierung der Todeszahlen schwieriger. Des Weiteren darf man den damaligen sozialpolitischen Hintergrund nicht vergessen, da die hier behandelte Pandemie vom Ende des Ersten Weltkriegs und dessen Folgen überschattet wurde. Hinzu kommen unannehmbare hygienische Zustände, eine schlechte Versorgungslage und Mangelernährung, wodurch die Mortalität beeinflusst wurde. Auch wurde angesichts der turbulenten Zeit und einer politischen Unsicherheit keine richtige Registrierung durchgeführt. Nicht zuletzt blieben viele Opfer in Afrika und Asien ungezählt, auch wenn man heute schätzt, dass in China ca. 9 Millionen Menschen daran starben.
[2] Johnson NPAS, Mueller J. Updating the accounts: global mortality of the 1918–1920 "Spanish" influenza pandemic. Bull Hist Med. 2002; 76:105–115.Doi: muse.jhu.edu/article/4826. 50 Millionen entsprechen etwa 3% der damaligen Welt-Bevölkerung.
[3] Taubenberger JK, Morens DM. 1918 Influenza: The Mother of All Pandemics. Emerging Infectious Diseases. 2006;12(1):15-22. Doi:10.3201/eid1201.050979
[4] Eine bestimmte Krankheit, die sich zu einer Pandemie entwickelte, mit anderen aus der Vergangenheit zu vergleichen, ist per se problematisch. Nach Parallelen zu suchen, setzt Ähnlichkeiten voraus, die es teilweise vermutlich gibt, die aber für eine medizinhistorische Zuordnung nicht hilfreich sind. Auch die Intensität zwischen den hier drei erwähnten Wellen sei nicht richtig zugeordnet, wenn man den Parameter „Impfung“ außer Acht lässt. Diese Möglichkeit gab es im Fall der „Spanischen“ Grippe nicht, auch wenn der englische Chirurg Edward Jenner schon in der 1796 – Geburtsstunde der modernen Impfung – bereits herausfand, wie Menschen Abwehrkräfte aufbauten. Die Virologie gab es als Fachrichtung 1918 ebenfalls nicht. Erst in den 1940er Jahren wurden mit der Entwicklung des Elektronenmikroskops Viren sichtbar gemacht. Zuvor hatte der deutsche Chemiker Adolf Mayer im Jahr 1882 nachgewiesen, dass es kleinere Substanzen als die Bakterien gibt, die eine Infektionskrankheit verursachen. Nichtsdestoweniger dient eine Reise in die Vergangenheit dazu, anhand der Erfahrung und den aktuellen Daten, die Gefahr richtig einzuschätzen und schnellstmöglich im Sinne einer Prävention richtig zu handeln.
[5] Feichter, Martina. Pandemie & Epidemie. NetDoktor. 03.04.2020. Online unter: www.netdoktor.de/krankheiten/infektionen/pandemie-epidemie
[6] Ebenda.
[7] Bei allem Respekt vor den Bemühungen der WHO, die Krankheitsbezeichnungen von einem möglichen Herkunftsort zu befreien, damit eine gesamte Nation nicht insultiert wird, wird im Namen der historischen Zuordnung die Bezeichnung behalten, der Ort in Anführungszeichen gesetzt.
[8] Vgl. Kupferschmidt, Kai. Wenn Krankheitsnamen beleidigen. Süddeutsche Zeitung. 10.05.2015. Online unter: www.sueddeutsche.de/gesundheit/who-wenn-krankheitsnamen-beleidigen-1.2471294
[9] Seewald, Berthold. Die blutige Bilanz des Ersten Weltkriegs. WELTGeschichte. 11.11.2018. Online unter: https://www.welt.de/geschichte/article183581324/Wie-viele-Tote-Die-blutige-Bilanz-des-Ersten-Weltkriegs.html
[10] Vgl. Scharf, Michaela. Der innere Feind’. Medizin im Ersten Weltkrieg, Die Welt der Habsburger. Online unter:
[11] Man weiß über Ereignisse nur, wenn sie in einem Narrativ festgehalten werden. Nur so werden Geschehnisse im kollektiven Gedächtnis verhaftet und bleiben im historischen Gedächtnis erhalten.
[12] Vgl. Michels, Eckard. Die Spanische Grippe 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 58 Heft 1, S. 12. Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2010. Doi: doi.org/10.1524/vfzg.2010.0001
[13] Bax, Daniel. Welt im Fieber. Der Freitag. Ausgabe 13/2020, 26.03.2020. Online unter: www.freitag.de/autoren/der-freitag/welt-im-fieber
[14] Vgl. González, Antonio. Fuego Amigo: El ‘Soldado de Nápoles’. El Global. 07.06.2009. Online unter: elglobal.es/hemeroteca/fuego-amigo-el-soldado-de-napoles-hfeg_424434
[15] Veröffentlicht in der Fuldaer (02 04 20) und in der Sächsischen Zeitung (21 03 20).
[16] Vgl. Ullmann, Eva (2020). Humor ist Chefsache: Besser führen, verhandeln und präsentieren – so entwickeln Sie Ihren humorvollen Fingerabdruck. Berlin: Springer.
[17] Die Neutralität Spaniens in Weltkriegen hat eine Tradition, auch wenn manche spanische Truppen im Zweiten Weltkrieg auf russischer Seite kämpften. Franco hatte – im Gegensatz zum portugiesischen Diktator Salazar, der die Briten bevorzugte – großes Interesse daran, neutral zu bleiben. Um aber die spanische Neutralität im Ersten Weltkrieg zu verstehen, sei an die damalige Bündniskonstellation erinnert, wo Spanien sich nicht zugeordnet sah. Vergegenwärtige man sich den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, handelte es sich nämlich um bestimmte Bündnissysteme. Genauer: Deutschland lebt in der Vorstellung, von Feinden eingekreist zu sein, und führt einen Zweifrontenkrieg. Es gilt die Taktik „Wer zuerst schlägt, überlebt“. Die Feinde waren einerseits Franzosen anderseits Russen, auch wenn man ursprünglich mit Letzteren verbündet war. Da aber das deutsch-russische Bündnis auseinanderbrach, wurde Russland durch das Osmanische Reich ersetzt. Darauf schließen Russen und Franzosen ein eigenes Bündnis. Rufe man die Ausgangssituation ins Gedächtnis, war der Prager Fenstersturz das serbische Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg und seine Frau. Hinter Serbien standen Russland und Frankreich. In diesem Moment stellt Österreich/Ungarn mit deutscher Rückdeckung an Serbien ein Ultimatum, das nicht angenommen wurde; es kommt zur Kriegserklärung [Sterben für Serbien]. Darauf erklärt einerseits Russland und Frankreich den Österreichern andererseits das Deutsche und Osmanische Reich den Russen und Franzosen den Krieg. Großbritannien tritt auf französischer Seite in den Krieg ein. Bulgarien kämpft an der Seite der Mittelmächte. Die zwei Wackelkandidaten in diesem Bündnissystem sind Italien und Spanien. Ersteres ist ursprünglich mit Deutschland/Österreich und wechselt anschließend den Kurs. Die Spanier bleiben dagegen ihrer Neutralität treu. Das Land war einerseits erschöpft vom Kubanischen Unabhängigkeitskrieg (1895–1898) anderseits in einem Dauerkrieg/Kolonialkrieg in Marokko involviert.
[18] Interview der Autorin des Bestsellers 1918 - Die Welt im Fieber (2021). München: Carl Hanser Laura Spinney. Online unter: www.hanser-literaturverlage.de/buch/1918-die-welt-im-fieber/978-3-446-25848-8 Über die deutschstämmige Familie Trump wird dazu spekuliert, dass Teil des Vermögens von Versicherungen stammt, die sie während der 1918er Pandemie mit nicht versicherten und verunsicherten Bürger_ innen abschloss. Die Richtigkeit dieses Ondits kann man bezweifeln, es ist aber wichtig, erwähnt zu werden. Denn damals wie heute, gibt es Menschen, die in schwierigen Zeiten - und während der globalen Armut dramatisch ansteigt - enorm profitieren. Wie der Bloomberg Millionaires Index bekannt gab, ist beispielsweise das Vermögen von Amazon-Chef Jeff Bezos seit Jahresbeginn um 24 Milliarden auf 138,5 Milliarden Dollar (126,1 Mrd. Euro) gewachsen.
[19] Ebenda.
[20] Nickol, Michaela E.; Kindrachuk. Jason. A year of terror and a century of reflection: perspectives on the great influenza pandemic of 1918–1919. BMC Infectious Diseases 2019 19:117, February 2019. Doi: 10.1186/s12879-019-3750-8, Vgl. Ebenfalls Taubenberger JK, Morens DM. 1918 influenza: the mother of all pandemics. Emerg Infect Dis. 2006;12(1):15–22.
[21] Maybaum, Thorsten. Spanische Grippe: Ein Virus – Millionen Tote. Ärzteblatt. Medizin studieren 1/2018, S. 36. Online unter: www.aerzteblatt.de/archiv/197155/Spanische-Grippe-Ein-Virus-Millionen-Tote
[22] Hier verbirgt sich der Gedanke, man tötete Keime mit einer Desinfizierung von innen. Früher, im Mittelalter, machte man so etwas in den Klöstern mit Rotwein. Das zieht sich bis ins 19. Jahrhundert, wo der fränkische Winzerverband sogar einen Antrag stellt, Wein in der Offizin [Apotheke] zu verkaufen.
[23] Tribelhorn, Marc. Vor 100 Jahren wütete die Spanische Grippe. Bis heute bleibt sie ein Rätsel. Neu Zürcher Zeitung. 16.03.2018. Online unter: www.nzz.ch/gesellschaft/spanische-grippe-1918-ein-toedliches-fieber-geht-um-die-welt-ld.1366421
[24] Markel H, Lipman HB, Navarro JA, et al. Nonpharmaceutical Interventions Implemented by US Cities During the 1918-1919 Influenza Pandemic. JAMA. 2007;298(6):644–654. Doi:10.1001/jama.298.6.644
[25] Die Hong-Kong Grippe war eine äußerst gefährliche Krankheit mit verheerenden sozialen Folgen. Erstaunlicherweise wurde sie - auch wenn sie in Deutschland für gefüllte Krankenhäuser sorgte - aus kollektiven Gedächtnis wegradiert, da [nur] vier Menschen daran/damit starben.
Bildergalerie:
DER ALLTAG
DIE PRESSE
Die Satire
Der Vorläufer: Die „Russische“ Grippe
Die Maßnahmen
Das Bild der Krankheit
Der Einsatz
Die Kunst
Die Entschlüsselung
Bibliographie:
Bax, Daniel. Welt im Fieber. Der Freitag. Ausgabe 13/2020, 26.03.2020. Online unter: www.freitag.de/autoren/der-freitag/welt-im-fieber.
Feichter, Martina. Pandemie & Epidemie. NetDoktor. 03.04.2020. Online unter: www.netdoktor.de/krankheiten/infektionen/pandemie-epidemie.
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Scharf, Michaela. Der innere Feind’. Medizin im Ersten Weltkrieg, Die Welt der Habsburger.
Seewald, Berthold. Die blutige Bilanz des Ersten Weltkriegs. WELTGeschichte. 11.11.2018. Online unter: www.welt.de/geschichte/article183581324/Wie-viele-Tote-Die-blutige-Bilanz-des-Ersten-Weltkriegs.html.
Spinney, Laura (2021). Die Welt im Fieber. München: Carl Hanser.
Taubenberger JK, Morens DM. 1918 Influenza: the Mother of All Pandemics. Emerging Infectious Diseases. 2006;12(1):15-22. Doi:10.3201/eid1201.050979.
Tribelhorn, Marc. Vor 100 Jahren wütete die Spanische Grippe. Bis heute bleibt sie ein Rätsel. Neu Zürcher Zeitung. 16.03.2018. Online unter: www.nzz.ch/gesellschaft/spanische-grippe-1918-ein-toedliches-fieber-geht-um-die-welt-ld.1366421.
Ullmann, Eva (2020). Humor ist Chefsache: Besser führen, verhandeln und präsentieren – so entwickeln Sie Ihren humorvollen Fingerabdruck. Berlin: Springer.
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