von Elke Worg
Am Abend des 5. Septembers 1955 versammelten sich auf dem Taxim Platz in Istanbul etwa 20.000 Türken. Mit Stangen und Äxten bewaffnet, tobte der wütende Mob durch die Istiklal-Straße. Sie verwüsteten griechische Läden, Werkstätten und Wohnungen. Auf der Straße verbreitete sich ein bestialischer Gestank, der von brennenden Brokatstoffen herrührte. Die orthodoxen Kirchen wurden geplündert und zertrümmert sowie wertvolle Ikonen unwiederbringlich zerstört.
Die Türken brachen sogar griechische Gräber auf, zerrten die Gebeine aus ihren Ruhestätten und verteilten sie auf dem Friedhof. Wie sich später herausstellte, hatten die Schläger die Anweisung erhalten, kein Massaker anzurichten, sondern nur griechisches Eigentum zu beschädigen. Doch dabei blieb es nicht. Bischöfe und Priester wurden misshandelt. Griechische Männer mussten mitten auf der Straße Zwangsbeschneidungen über sich ergehen lassen. Manche starben nach dem Eingriff. Frauen wurden auf offener Straße vergewaltigt. Die Gewalt eskalierte immer mehr.
Die Bilanz der Schande
Erst am Morgen des 7. September fuhren Panzer auf. Ministerpräsident Menderes verhängte das Kriegsrecht. Eine gespenstische Stille lag über der Stadt. Nun zeigte sich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Im gesamten Gebiet fand sich kein griechisches Geschäft, das von den Nationalisten verschont geblieben wäre.
Schätzungen zufolge gab es etwa zwanzig Tote und hunderte von verletzten Menschen. Die materiellen Verluste waren enorm. Von den insgesamt 70 Kirchen blieben nur neun unbeschädigt. Zwei der unrettbar zerstörten Gotteshäuser stammten noch aus byzantinischer Zeit. Außerdem wurden mehr als 30 christliche Schulen in Brand gesetzt. Der Mob verwüstete rund 3500 Wohnhäuser, 110 Hotels, 27 Apotheken, 21 Fabriken und etwa 4000 Geschäfte. Über die Höhe des Sachschadens gibt es unterschiedliche Angaben. Während griechische Schätzungen von 500 Millionen US-Dollar sprechen, spielen türkische Quellen den Schaden auf 25 Millionen herunter.
Nach dem Pogrom begann der Exodus
Aus Angst vor weiteren Repressalien kehrten viele Griechen Istanbul den Rücken – zunächst freiwillig. Neun Jahre später mussten sie im Zuge einer weiteren Zypernkrise gezwungenermaßen das Land verlassen. Doch die Suche nach einer neuen Heimat gestaltete sich schwierig. Die Istanbuler Griechen saßen zwischen zwei Stühlen. Überall wurden sie wie Fremde behandelt. In den Augen der Griechen galten die Rum als Türken. Für die Türken jedoch waren sie Griechen. Heute leben in Istanbul nur noch etwa 1500 Griechen. Eine verschwindend geringe Anzahl, wenn man bedenkt, dass es vor dem Pogrom rund 150 000 Menschen mit griechischen Wurzeln waren.
„Die Vertreibung der Minderheiten war faschistisch!“
Lange wurde über das Istanbul-Pogrom weder in Griechenland noch in der Türkei gesprochen. Inzwischen besuchen immer mehr Griechen Istanbul als Touristen. Viele wollen die Stadt kennen lernen, die für Generationen die Heimat ihrer Vorfahren war. Auch die Türken machen sich zaghaft an die Bewältigung der Vergangenheit. Auf der Istiklal wurde vor einigen Jahren eine Ausstellung mit jenen Fotos eröffnet, die in der Nacht der Schande aufgenommen wurden. Und selbst Premierminister Erdogan brachte über die Lippen gebracht hatte: „Die Vertreibung der Minderheiten war faschistisch!“
Aus griechischer Seite handelt es sich selbstverständlich um ein heuchlerisches Geständnis, das keinerlei Bedeutung hat, sobald der wesentliche Inhalt nicht festgestellt wird: Wiederherstellung von Eigentumsrechten, ein Gefühl der Sicherheit für die griechische Rückkehrer, Anerkennung der Rechte von Gemeinschaften und Vereinigungen.
Auch die türkische Zeitung „Today’ s Zaman“ wies am 8.9.2014 darauf hin, dass Erdogans Politik nichts anderes, als die Fortsetzung jener fatalen Politik gegen Minderheiten aus der Vergangenheit sei.
Text: Elke Worg
Copyrights: © 2013 Magazin Drachme by Jopa, © 2018 Ethno News by Jopa Herausgeberin: Johanna Panagiotou, LMU Doktorandin, Amerikanische und Transatlantische Geschichte
Fotos (schwarzweiß): cpolitan.gr
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