Die Minderheitenpolitik des Premierministers
von Johanna Mamali Panagiotou
Doktorandin an der LMU
Amerikanische und Transatlantische Geschichte
Eleftherios Venizelos schloss sich zwar den Ansichten seiner nationalistisch geprägten Zeit an, war aber prinzipiell als Person und Politiker sehr progressiv. Der Historiker und INERPOST Direktor Vassilis Kollaros beschreibt die Anschauungen des Premierministers und deren Entwicklung in seiner Dissertation Über die Minderheitenpolitik von Venizelos (Kollaros, 2015:12-13) wie folgt:
Geboren auf der damaligen osmanischen Insel Kreta war er schon von Kindesbeinen an mit dem Bild des „Anderen“ vertraut. Die Begegnung mit dem muslimischen Element war ausschlaggebend dafür. Seine Stellungnahmen gegenüber Minderheiten während seines politischen Engagements im damaligen Kretischen Staat (1898-1913) wurden durch ein äußerst progressives Denken geprägt, das sogar dem Minderheitsrecht seiner Zeit voraus war.
Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg
Seine Weltanschauungen blieben bis 1920 unverändert. Dieselben progressiven Ideen teilte er auch, als er im Freien Griechischen Königreich ankam. Griechenlands Gebietserweiterung als „Erbe“ der Balkankriege (1912,1913) konfrontierte die griechische Administration mit dem kulturell „Fremden“.
Die liberale Minderheitenpolitik von Venizelos sorgte jedoch für die Integration von Muslimen, Juden, Slaven und Walachen. Ethnische Zugehörigkeit, Sprache und Religion durften kein Hindernis für ihre Aufnahme in die neue Gesellschaft sein. Juristisch gesehen, waren sie gleichberechtigte Bürger.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die nationale Spaltung legten diese progressive Politik auf Eis. Nichtsdestotrotz lässt sich Venizelos’ Minderheitenpolitik 1910-1920 als besonders progressiv bezeichnen. Seinen Standpunkt, dass die Minderheiten keinesfalls als Bürger zweiter Klasse gelten, hat er auch auf der Pariser Friedenskonferenz (1919) verteidigt.
Die Große Idee und der Frieden von Sèvres*
Unter Große Idee (gr. Μεγάλη Ιδέα) versteht man den Anspruch, die seit der Antike griechisch besiedelte Küste Kleinasiens dem a dato griechischen Territorium anzugliedern. Venizelos, als Befürworter dieser „Befreiungsbewegung“ und Gesprächspartner der Siegermächte des Ersten Weltkriegs beschäftigte sich weiterhin mit der Minderheitenfrage – eine Nachkriegspriorität.
Der Vertrag von Sèvres (1920) und die damit verbundene Beendigung des Krieges prägte nach Venizelos das Bild eines "starken Staates, konstruiert aus zwei Festländern und fünf Meeren" (Griechisch: Η χώρα των δύο Ηπείρων και πέντε θαλασσών). Diese Macht verdankte das Neue Griechenland inter alia seinen sozusagen „Nichtgriechen“.
Bereits 1906 betonte der Kreter, dass die Integration dieser Gruppen den komparativen Vorteil Griechenlands in der Balkanzone darstellte.
Die Kleinasiatische Katastrophe*
Mit Zustimmung Englands und Frankreichs schickte Venizelos griechische Soldaten nach Kleinasien. Die Truppen wurden vernichtend geschlagen; Homers Heimat, das antike Smyrna, ging in Flammen auf.
Auf den Trümmern der Kleinasiatischen Katastrophe (1922) errichtete Mustafa Kemal Atatürk die neue Republik Türkei, einen modernen Nationalstaat ohne nicht-muslimische Minderheiten. Fliehen mussten auch die Pontos Griechen. Eine Ausnahme bildeten die Rum (Istanbuler Griechen).
Eine unerwartete Wende sorgte für neue Turbulenzen. Venizelos kooperierte mit Kemal Atatürk. Die zwei Herren entschlossen sich zu einem historisch einmaligen Experiment, das mit dem Vertrag von Lausanne (1923) besiegelt wurde. Das Abkommen sah einen „Bevölkerungsaustausch“ vor. Laut diesem wurden 1,5 Millionen Griechisch-Orthodoxe aus der Türkei vertrieben und in Nordgriechenland angesiedelt, das im Gegenzug von über 500.000 Muslimen „bereinigt“ wurde.
Aus dem progressiven Politiker wurde ein Kooperationspartner des Nationalisten Atatürk. Am Ende begrüßte er sogar die Vertreibung der Griechen muslimischen Glaubens, um die Niederlassung der aus Anatolien Neuankömmlinge zu gewährleisten. Die Ereignisse hatten den einst weltoffenen Politiker deutlich überholt.
Die große Wende
1928 kehrte Venizelos in das politische Leben als Premierminister zurück. Unter den verschiedenen sozioökonomischen Einflüssen der Zwischenkriegszeit vertrat der liberale Politiker nun völlig andere Positionen.
Er argumentierte für die Assimilation der Minderheiten, die ihre Loyalität und ihren Patriotismus stets unter Beweis stellen müssten. In diesem Rahmen entstand nicht zuletzt der Konflikt zwischen Venizelos und der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki, die eher dem Griechischen König Konstantin nahestand. Diese Tatsache stand im Gegensatz zu seiner bisherigen Argumentation (Miteinbeziehung von starken Gemeinschaften). Immerhin waren es 55.200 Jüdinnen und Juden, die in Salonika vor dem Zweiten Weltkrieg lebten.
Venizelos sah sich also unter westlichem Einfluss * und angesichts einer zu großen Abhängigkeit von den Ereignissen nach Keynes “When the facts change, I change my mind“ verpflichtet, seine Haltung im Laufe der politischen Karriere zu ändern. Der "Radikalisierungsprozess", einer Gefahr der Politiker während und nach dem Ersten Weltkrieg ausgesetzt waren, lässt sich auch nicht ausschießen.
Der psychologische Faktor
Wahrscheinlich kam es auch hinsichtlich der Zuwanderung zu einer Überforderung. Man könnte sich an dieser Stelle Gedanken machen, wie die Reaktion damals war. Zum Vergleich: In Deutschland kommt es immer wieder zu Turbulenzen, weil in den vergangenen 5 Jahren circa 1,8 Millionen Menschen Asyl beantragt haben. Und das in einem Land, das 48 Milliarden Euro Überschuss aufweist. Stellen wir uns jetzt vor, wie es in Hellas während der Zwischenkriegszeit war. Ein Desaster in vielerlei Hinsicht. So musste Venizelos die Griechen muslimischen Glaubens (die immer noch heute als Türken gelten!), opfern, um die „echten“ Griechen aus Pontos und Kleinasien (für deren Verwurzelung er auch schuld war) zu empfangen. Die Ironie, ist dass die Einheimischen letzteren den Rücken zeigt und sie als Τουρκόσποροι (türkische Samen) beschimpften.
Eleftherios Venizelos gilt immer noch heute als eine herausragende, dennoch kontroverse Persönlichkeit. Er gab 1930 den Frauen das Wahlrecht und 2011 Athens Flughafen seinen Namen. Er setzte sich für die Beseitigung des Kommunismus, Anarchismus und der Gewerkschaften (Idionymon 1929) ein und schlug 1932 Kemal Atatürk, dem Vertreter des Nationalismus und Hauptverantwortlichen für den Mord an 2,5 Millionen Armeniern und Griechen für den Friedensnobelpreis vor.
Verrat oder diplomatisches Geschick? Opportunist oder Realist? Mit dieser Frage, genauso wie mit der Fragestellung des vorliegenden Artikels, werden sich Historikerinnen und Historiker weiterhin beschäftigen.
* Ethnische Säuberungen wurden damals von westlichen Politkern im Interesse ethnischer Homogenität gefördert.
HINWEIS:
Über das Wort "progressiv" und "liberal"
"Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert meinte man etwas anderes als heute; vor allem im Nationalliberalismus, der semantisch eine Vorstufe zum Faschismus war. An Mussolini etwa kann man zeigen, dass seine Sprachgebung nahezu total vom Nationalliberalismus des 19. Jahrhunderts abhing".
Kommentar meines Doktorvaters Prof. Dr. Michael Hochgeschwender
Progressiv: Deutsch für Προοδευτικός
Liberal: Deutsch für Φιλελεύθερος (Freund der Freiheit)
Der Artikel wurde in Anlehnung an die Doktorarbeit von Vassilis Kollaros „The minority policy of Eleftherios Venizelos“ (Uni Panteion, 2015) verfasst.
* Die Große Idee und der Frieden von Sèvres und Die Kleinasiatische Katastrophe sind Teile der Doktorarbeit Frauen, Macht und Trauma im Kalten Krieg. Biografien vor und hinter dem Eisernen Vorhang (1947−1953) eingereicht am 15.03.2023 (LMU), und bereichern die Biografie der kaltkriegerischen Figur von Elli Pappa, geb.1920 in Smyrna.
Die Verantwortung für die Struktur, die freie Übersetzung ins Deutsche, die notwendigen Ergänzungen für die deutschen Leser_ innen und die chronologische Reihenfolge der Ereignisse übernimmt die Autorin Johanna Panagiotou.
Lektorat: Edit Engelmann
Fotos: Wikipedia
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