SCHICKSAL TREUHAND – TREUHAND-SCHICKSALE
Es scheint mir eines der schwer zu lösenden Rätsel zu sein, wie manche Zitate in die Geschichte eingehen und blitzschnell in aller Munde sind - ohne Angaben zur Richtigkeit, zur Originalität, zur Quelle. In solchen Fällen ist es bequem zu behaupten, das Volk habe es gesagt. Eines davon ist das 'legändere' »Helmut, nimm uns an die Hand, führ uns ins Wirtschaftswunderland«, das viele Zeitzeug_ innen bezweifeln, zumal sie sich nicht daran erinnern können, es je gerufen oder gehört zu haben. »Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr« ist ein weiteres Wende-Zitat, das sich die Betroffenen im wahrsten oder übertragenen Sinne doch nicht auf die Fahne geschrieben haben – so zu mindestens die Erinnerungen. An was sie sich aber ganz sicher erinnern können, ist, wie im Rahmen der Treuhandpolitik ihr Betrieb für eine D-Mark verkauft wurde. Dann kam die Wende; für andere die Arbeitslosigkeit, die Existenzängste, das Chaos. Die einen rieben sich die Hände, die anderen schauten verzweifelt zu. Und die Geschichte nahm ihren Lauf.
Apropos Treuhand: Für viele Bürger_ innen in Ostdeutschland ein Albtraum, den sie nie richtig verarbeiten konnten, da es einem Kapitel deutscher Geschichte gehört, das unter den Teppich gekehrt wurde. Doch die Menschen, die die bizarren Geschehnisse „im Name der Wende“ am eigenen Leib erlebt haben, können nicht mehr schweigen. Sie wollen nicht mehr zuschauen, wie in ihrem Namen Geschichte geschrieben wird, ohne ihre Sichtweise miteinzubeziehen. Sie wollen reden. Sie müssen reden.
Dieses Bedürfnis hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgegriffen und machte mit »Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale« einfache Menschen aus der ehemaligen DDR von Komparsen zu Protagonisten. Die Ausstellung reiste auch nach München und wurde in Fürstenfeldbruck beheimatet. Auf Einladung von Dr. Julia Killet, Geschäftsführerin des bayerischen Rosa-Luxemburg Büros (Kurt-Eisner-Verein), nahm ich mit einer Münchner Gruppe die S-Bahn Richtung Geltendorf, besuchte die Ausstellung und genoss die Lesung »Das Treuhand-Trauma: Die Spätfolgen der Übernahme« mit der Autorin PD Dr. Yana Milev.
Was wir 'Wessis' dort dank einer Initiative des örtlichen Sozialforums gehört und erlebt haben, sorgte für Kopfschütteln.
Beim Verlassen des Ausstellungsortes, der wunderschönen Stadtbibliothek in der Aumühle, versprachen wir uns, alles Mögliche zur Aufarbeitung dieses vergessenen Kapitels deutsch-deutscher Geschichte zu tun. Dieser Beitrag ist das Mindeste, was ich dafür machen kann. Für die 'Ossis', die denunziert wurden. Für viele 'Wessis', die, alles was ihnen einseitig geschildert wurde, naiv geglaubt haben. Für die Geschichte, die nicht lückenhaft sein darf.
Meine ostdeutsche Liebe verdanke ich Dr. Peter Gerlinghoff aus Sangerhausen. Yana Milev machte daraus eine Leidenschaft.
von Johanna Panagiotou (alias Victoria Mali)
Kulturhistorikerin (Doktorandin) am Amerika-Institut der LMU
Hört man sich einen Vortrag von Soziologin und Ethnographin Yana Milev an, ist es nicht immer einfach, ihren komplexen Gedankengang zu verfolgen.
Zum einen hat das was mit ihrer sozusagen 'Doppelidentität' zu tun. Wie so viele Bürger_ innen aus Ostdeutschland war die Leipzigerin vor der Vereinigung in einem völlig anderen Bereich tätig, bevor sie sich der Wissenschaft widmete: Sie war Künstlerin; mit Leib und Seele. Nach einem Studium für Bühnen- und Kostümbild an der HfBK Dresden wurde ihre Kunst von einer Topgalerie vertreten. Sie wurde die erste weibliche Position aus der Ex-DDR und den Ex-Ostblockländern auf der Documenta in Kassel (dX, 1997). 2003 kündigte ihr Galerist die weitere Zusammenarbeit. Der darauffolgende Zusammenbruch wurde für sie existenziell. Bevor sich die schwer zu öffnenden Pforten einer Universität für Yana Milev öffneten, reist sie aus ethnographischem Interesse mit einem DAAD-Stipendium nach Japan und erlernt in Kyōto die traditionellen japanischen Kampfkünste Kyudô und Aikidô. Der Kunst ist sie heute noch als Kuratorin verbunden.
Darüber hinaus referiert Milev über Themen, für die sie als Expertin und Zeitzeugin über fundierte Kenntnisse verfügt, doch gleichzeitig mit einer begründeten Emotionalität kämpfen muss. Denn alles, was sie erzählt, sind schon gesagt worden; nur anders: einseitig, angepasst. Von denen, die Geschichte schreiben und umschreiben. Von den Gewinnern. Und es ist immer ein David gegen Goliath Kampf. Genauso wie die Proteste der Bevölkerung gegen die Politik der Treuhandanstalt. Daran erinnert sich Dr. Dagmar Enkelmann, die im März 1990 in die Volkskammer der DDR gewählt wurde, heute im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung sitzt und für eine Publikation zur Treuhand-Ausstellung das Editorial verfasste. Dort schreibt die Historikerin und Jugendforscherin:
»Es war ein Kampf David gegen Goliath, den in der Regel die Treuhand gewann«.
»Der ökonomische Kahlschlag auf dem Gebiet der ehemaligen DDR war für viele ein Schock. Sie haben das Agieren der Treuhandanstalt wie einen Schicksalsschlag empfunden. Der Protest gegen die Politik der Treuhand hat die Anstalt von Anfang an begleitet – ebenso wie die Erfahrung, dass Widerstand in Form von Betriebsbesetzungen, Demonstrationen vor der Treuhandzentrale in Berlin oder sogar Hungerstreiks zumeist vergeblich war«.
(Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2. aktualisierte Auflage, V.i.S.d.P: Alrun Kaune-Nüßlein, Albert Scharenberg, ISBN: 978-3-948250-04-1, 2019, S.6)
Zurück zu Milevs Vortrag, der zwei Stunden dauerte und mit dem ersten Ton das Fürstenfeldbrucker Publikum fesselte. Im Rahmen dessen nahm die Referentin kein Blatt vor den Mund und schilderte die Situation, so wie sie sie selbst erlebt hat und so wie sie nach jahrelangen akademischen Recherchen von ihr wahrgenommen wird. Parallel las sie aus ihrem Buch »Das Treuhand-Trauma: Die Spätfolgen der Übernahme«, wo sie mit Klischees und Mythen aufräumt. Schon auf dem Klapptext heißt es:
»Es haben sich nicht zwei Staaten vereinigt, sondern der eine übernahm den anderen«
"Sie hat die Auswirkungen der Bonner Abwicklungs- und Anschlusspolitik seziert und die mediale Begleitung der Übernahme analysiert. Im Zentrum ihrer Untersuchungen steht die Treuhandanstalt als Vollstreckerin des politischen Willens der Mächtigen der alten Bundesrepublik. Milev spricht deutlich und offen aus, was die Politik verschweigt. Ihre Thesen lauten: die »friedliche Revolution« – sie war keine. Die Abwesenheit physischer Gewalt bedeutete nicht, dass es nicht psychischen Druck und andere Formen der Übernahme gab. Zweitens: „Wir sind ein Volk“ - mitnichten. Die Ost- und die Westdeutschen haben aufgrund der komplementären gesellschaftlichen Entwicklungen unterschiedliche Erfahrungen. Drittens: die »Wiedervereinigung« – es war keine. Es haben sich nicht zwei Staaten vereinigt, sondern der eine übernahm den anderen. Viertens: die »Wohlstandsversprechen« von Kohl 1990: »Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor, dafür vielen besser«. Dies zu widerlegen genügt die Statistik.
Der «Aufbau Ost» war ein Rückbau der DDR vom Industriestaat zum Entwicklungsland
und fünftens: die Monopolisierung von Demokratie und Geschichte durch das CDU-Regime (GroKo) ist undemokratisch und hat zu Radikalisierungen geführt. Damit widerspricht Milev vehement der Behauptung von der erfolgreichen »Transformation des Ostens«. Und sie belegt, dass Treuhand- und Aufarbeitungspolitik als zwei Seiten einer Medaille zu sehen sind die im Auftrag der Bundesregierung zu einer Kulturkatastrophe führten, deren gesellschaftliche Verarbeitung erst am Anfang steht".
Milev, Yana (2020). Das Treuhand-Trauma: Die Spätfolgen der Übernahme. Berlin: Eulenspiegel
Die Authentizität der Veranstaltung wurde bestätigt, als die Autorin von ihrer eigenen Erfahrung berichtete, um beispielsweise Inferiorisierungs-Phänomene zu beschreiben. Heute ist sie eine habilitierte Privatdozentin für Kultursoziologie der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen in der Schweiz und leitet die Forschung «Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90». Doch die akademische Laufbahn war für Yana Milev steiniger als die einer Wissenschaftlerin aus dem Westen. Nach 10 Jahren beharrlicher selbstfinanzierter akademischer Qualifizierung und Bewerbungsprozedere saß sie vor einem Stapel von Bewerbungen, die sie an 80 Universitäten der BRD schickte und die alle mit einer Ablehnung beantwortet wurden. Ihr wurde klar, dass es unmöglich an ihrer Qualifikation oder an ihrer Qualität liegen kann.
Ostdeutsche sind immer noch in Führungspositionen unterrepräsentiert; im akademischen Bereich liegt der Anteil der Wissenschaftler_ innen in höheren Positionen von Elitenuniversitäten erst bei 1,7%. Auch die traumatischen Erfahrungen aus der eigenen Familie (ihr Vater, ein Mediziner, war ebenfalls von der Arbeitslosigkeit betroffen und erkrankte dadurch schwer) sowie die Suiziden ihrer Mitbürger_ innen aus Verzweiflung, lasen sie heute noch nicht los. Sie ist stark davon überzeugt, dass sie mit allen – und meistens mit eigenen – Mitteln weitermachen muss, um die andere Seite der Medaille, die 'Wiedervereinigung' (für manche 'Übernahme') zu beleuchten. Auch wenn sie selber nicht immer glücklich 'drüben' war (siehe unangenehme Stasi-Erfahrung). Es geht ums Prinzip. Es geht um die Wahrheit, die weder aus dem Westen noch aus dem Osten, im Sinne von Ex Oriente Lux, kommt.
Um das Kapitel »Treuhand ∙ Wende ∙ Wiedervereinigung« vorläufig zu schließen -hoffentlich wird es Fachleute und Betroffene weiterhin beschäftigen -, weise ich auf eine Reihe von Fragen hin, die bei einer Auseinandersetzung mit dem Thema aufgeworfen werden:
- Wie kam es dazu, dass die von der Modrow-Regierung beschlossene „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“, um das Volkseigentum zu bewahren und im Interesse der Allgemeinheit zu verwalten, zu einer Privatisierungsbehörde wurde? Warum wurden die diesbezüglichen Proteste des Volkes nicht wahrgenommen?
- Welche war dabei die Rolle der „Allianz für Deutschland“? Wie kam es zu ihrem Sieg, angenommen, dass 80% der Ostdeutschen Atheisten waren und sich mit einem ihren Teil, der Christlichen Union, identifizieren konnten? Waren dabei etwa die 40 Millionen DM, die vom Bonner Kabinett in den Wahlkampf floss, ausschlaggebend?
- Warum blieben die Akten der Treuhandpolitik für solange unzugänglich?
- Warum schrumpft nach 30 Jahren, die Hälfte davon mit einer ostdeutschen Kanzlerin an der Spitze der Regierung, die wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland kaum?
- Kann man den heutigen Rechtrück in den 'neuen' Bundesländern anhand der oben geschilderten Ereignisse einigermaßen verstehen?
Und eine letzte Frage ergibt sich nach der Lektüre des Begleitbuches zur Ausstellung (siehe oben, S.8):
»Die bis heute wiederholten Aussagen, dass die DDR-Wirtschaft Ende der Achtzigerjahre marode gewesen sei, stützen sich allein auf Angaben zur negativen Differenz der Wirtschaftskraft der DDR, verglichen mit der Bundesrepublik, ohne dabei andere westeuropäische Marktwirtschaften oder osteuropäische Planwirtschaften zu berücksichtigen. Wirtschaftsanalysen, die nach 1990 von Siegfried Wenzel (Was kostet die Widervereinigung und wer muss sie bezahlen), veröffentlicht wurden, weisen aber aus, dass die DDR Ende der Achtzigerjahre nach dem Umfang der Industrieproduktion unter den mehr als 30 Staaten Europas einen achten beziehungsweise neunten Platz einnahm, gemessen am Umfang des produzieren Nationaleinkommens einen neunten beziehungsweise zehnten Platz. (…) „Dass die DDR ökonomisch zu den führenden Staaten in der Welt gehörte, zeigte sich auch im Außenhandel. Der Export der DDR bestand zu 48 Prozent aus anspruchsvollen Industrieprodukten wie Maschinen, Ausrüstungen und Transportmittel«.
(ebenda, S.9)
Informationen, die man auch ohne fortgeschrittenen Kenntnisse in der Ökonomie und nur mit puren menschlichen Verstand zuordnen kann – falls man auch die Gegenargumentation lesen will.
Johanna Panagiotou
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