Krebs, Terror und Kommerz
von Dr. med. Thanasis Bagatzounis
Wo von Gewalt oder Gefahr die Rede war, war seit jeher der Vergleich mit lebensbedrohlichen Krankheiten nicht weit.
So dienten Infektionskrankheiten seit der sowjetischen Revolution und bis zum
als dominante politische Metapher für die Ausbreitungsgefahr des Kommunismus.
„Der Bolschewismus verbreitet sich in Europa:
Alle neutralen Länder spüren jetzt die Infektion“, schrieb 1919 die New York Times. Und Winston Churchill sagte: „Lenin nach Russland zu schicken, ist, als würde man ein Röhrchen mit Typhus oder Cholera-Bakterien in die Wasserversorgung einer
Großstadt schütten“.
In diesem Sinne sprach der ehemalige Staatsmann eine seit Jahrhunderten bekannte Form der Kriegsführung an: die biologische.
Von den Antibiotika bis zur Kobaltbombe
Nach dem Sieg des Penicillins über die wichtigsten Infektionskrankheiten wurde der Krebs zur dominanten Metapher in der antikommunistischen Propaganda, da er durch seine unheimliche Kraft die Massen terrorisieren konnte. „Der Kommunismus ist wie ein bösartiger Parasit, der sich nur von Krankheitsgewebe ernährt“, schrieb 1946 George Kennan, amerikanischer Diplomat in Moskau, in einem wirkmächtigen langen Telegramm und setzte damit die Basis für die aggressive Eindämmungspolitik der USA gegen die Sowjetunion und die Bildung der NATO (1947).
Zehn Jahre später beschrieb die republikanische Partei die Fortschritte, die gegen den „Krebs des Kommunismus“ gemacht wurden und betonte,
dass sich die politische Philosophie der UdSSR nicht einfach von einem Staat zum anderen ausbreitet, sondern „metastasiert“.
Zur gleichen Zeit wurden aus den chemischen Waffen des 1. Weltkrieges und der Atombombe des 2. Weltkrieges zwei primitive ‚Waffen’ gegen den Krebs entwickelt: die Chemotherapie und die Kobaltkanone. Die obigen ‚Waffen’ wurden der Pharma- bzw. Technologieindustrie zur Kommerzialisierung überlassen.
Die terrorisierende Wirkung der Krankheit auf die Psyche der Menschen hat währenddessen ermöglicht, dass sie die damals sehr aggressiven Krebstherapien manchmal waren sie schlimmer als die Krankheit selbst − akzeptierten. Zugleich
wurde die Krebsforschung immer mehr in die Entwicklung von neuen Technologien und Medikamenten getrieben, die patentiert und vermarktet werden konnten.
Währenddessen wurde für die Vorbeugung herzlich wenig investiert, schließlich war sie nicht patentierbar.
Die Verantwortung für die Entstehung von Krebsund die Steigerung seiner Inzidenz wurde den Menschen und ihren schlechten Lebensgewohnheiten zugeschoben, wie z.B. das Rauchen für den Lungenkrebs und die Promiskuität für den Gebärmutterhalskrebs. Über die Verantwortung des Staates (siehe Atombombenversuche in Nevada 1950-1952) sowie der Industrie, die z.B. verschiedene krebserzeugende Chemikalien für die Herstellung von Pestiziden und Kosmetikprodukten verwendete, wurde weitaus seltener gesprochen.
Die 1970er und 1980er Jahre
Mit der von Richard Nixon 1971 verabschiedeten Kriegserklärung gegen den Krebs beginnt der systematische Feldzug gegen die Krankheit. Und die Medien intensivieren ihre „psychologische Kriegsführung“ zur Terrorisierung der Massen.
Begriffe wie „maligner Tumor“ und „Metastasen“ werden seitdem als Metapher in Zusammenhang mit großen geopolitischen Konflikten eingesetzt.
Man kann tatsächlich die Gefühle erahnen, die die Krebsrhetorik der Medien bei Krebspatient_ innenauslösen. Tatsache ist jedoch, dass diese Rhetorik
von der sogenannten Cancer-Advocacy Bewegung, die sich langsam seit den 1980ern entwickelt, toleriert wird.
Diese Bewegung nutzte die persönlichen Geschichten prominenter Frauen wie etwa der First Ladies Betty Ford und Nancy Reagan, um den Kampf gegen den Krebs anzusagen. In ihren Kampagnen benutzen sie Begriffe wie ‚Kämpferin‘, ‚Siegerin‘
oder ‚Überlebende‘, um den Betroffenen Mut zu machen und zu demonstrieren, dass der Feind nicht unbesiegbar ist; vorausgesetzt er wird früh entdeckt und mit allen zur Verfügung stehenden Waffen bekämpft: Stahl, Strahl und Chemie.
Die Welt nach den Terroranschlägen am 11. September 2011
Die ‚Medien-Kriegsführung‘ überdauerte den Krieg und wird seit dem 11.09.2001 zur wichtigsten Metapher für den neuen großen Feind der westlichen Welt: den islamischen Terrorismus.
„Der islamische Radikalismus hat sich nicht zurückgezogen, sondern ist metastasiert und hat sich auf der ganzen Welt ausgebreitet“, kommentiert 2006 NYT Reporter Mark Mazzetti den Bericht Trends im globalen Terrorismus: Auswirkungen auf die Vereinigten Staaten der US-Geheimdienste über die erhöhte Terrorismusgefahr im Irak.
Anlässlich des Süd-Libanon Konflikts ermuntert im selben Jahr der libanesisch-amerikanische Aktienhändler Ziad Abdelnour die US-Regierung „diesen Krebs“ (Hisbollah) „loszuwerden“. Umgekehrt charakterisiert 2014 Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah den Staat Israel als „einen Krebs, der unbedingt beseitigt werden muss“.1
Krebs, Terror und Feindbilder
Zwar ist der Kalte Krieg offiziell längst zu Ende, der Krieg gegen den islamischen Terrorismus und den Krebs gehen aber weiter, und zwar intensiver denn je.
Bereits 2013 hatte die Weltgesundheitsorganisation(WHO) den Kampf gegen die sogenannten Nichtübertragbaren Krankheiten (NCDs) hauptsächlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Diabetes und, selbstverständlich, Krebs − angesagt.
Unter den NCDs ist der Krebs diejenige Krankheit, die die Menschen am meisten terrorisieren kann, dafür hat nicht zuletzt die jahrzehntelange Propaganda des Kalten Krieges gesorgt.
Durch aggressive Kampagnen in Ländern mit unterentwickelten Gesundheitssystemen – dazu gehören auch die USA − über den Nutzen der Screening-Mammographie zur Früherkennung des Brustkrebses schafft es die Cancer-Advocacy Bewegung, die Häufigkeit des Brustkrebses in die Höhe zu treiben. Und zwar häufig ohne Rücksicht auf potentielle Risiken und die nötigen Qualitätskontrolle. Ähnliches passiert mit dem Prostatakrebs und dem Schilddrüsenkrebs, die oft auch harmlos sein können, aber immer noch sehr aggressiv behandelt werden.
Die Krebszahlen steigen dadurch weiter und tragen zur Aufrechterhaltung des circulus vitiosus bei.
Und dadurch erreicht der angesagte Krieg gegen den Krebs etwas anderes: Er lenkt die Massen von viel wichtigeren globalen Problemen ab: Kriege, Klimawandel, Umwelt, Armut, Hunger usw.
Die Cancer Advocacy-Bewegung hat sich mittlerweile zu einer mächtigen Lobbybewegung entwickelt, die eher die Interessen der Pharmaindustrie und nicht die der Krebspatienten vertritt.
Proteststimmen von Außenseitern, die zum Verbot von krebserzeugenden Chemikalien und anderen schädlichen Umwelteinflüssen aufrufen, werden mundtot gemacht; spektakuläre Nachrichten der Pharmaindustrie und ihrer Handlanger, der akademischen Institutionen, wissenschaftlichen Gesellschaften und Mainstream-Medien dominieren.
Für die Prävention wurde herzlich wenig investiert,
schließlich war sie nicht patentierbar.
Die Erschließung neuer Märkte
Beispielsweise soll eine neue, extrem teure Immuntherapie das Leben von Frauen mit einer lebensbedrohlichen Diagnose einer bestimmten Brustkrebsform verlängen. Allerdings lediglich um einige Monate. Grund genug, um dies als einen ‚Durchbruch’ in der Krebstherapie zu feiern und den Weg zu immer teureren Therapien zu öffnen. Das erklärte Ziel der Pharmaindustrie? Den Krebs zu einer chronischen Krankheit zu machen und damit auch höhere „Investitionsrenditen“ zu erzielen.
Denn ihre Umsätze sind zwar gut; „reichen im Schnitt aber nicht aus, um das Wachstum zu beschleunigen und ordentliche Renditen auf die Forschungsinvestitionen zu verdienen“ schrieb dieZeitung Handelsblatt im August 2018. Und fügt hinzu, dass eine Analyse von McKinsey gezeigt hat, dass in den 1990ern die Umsätze von neu entwickelten Medikamenten in den ersten sieben Jahren nach Markteinführung dreimal so hoch waren wie die Kosten für ihre Neuentwicklung. Aktuell liegt der Faktor bei 1,1. Das heißt, dass die Umsätze nur noch geringfügig höher als die Kosten sind. Der sogenannte „Return on Investment“ der Pharmaforschung ist also rückläufig.
Die Erschließung neuer Absatzmärkte für die teuren Krebsmedikamente in Ländern mit niedrigem und mittleren Einkommen ist für die Pharmaindustrie von vitaler Bedeutung, denn der Gesundheitsmarkt der Länder mit höherem Einkommen ist gesättigt und, viel wichtiger, viele ‚Konsumenten’ lassen sich nicht mehr von den Versprechen der Industrie überreden, kehren ihr den Rücken und entscheiden sich für alternative Therapien.
In den Ländern mit niedrigen- bis mittleren Einkommen soll die Krebsinzidenz in den nächsten Jahren mittels emotionalen Sensibilisierungskampagnen und der Einführung von Screening-Programmen zunächst gesteigert werden, genauso wie es in den letzten drei Jahrzehnten in den reicheren Ländern geschah.2
Währenddessen verteilt das US-amerikanische Unternehmen Amgen, um nur eine der vielen Aktionen der Pharmaindustrie zu erwähnen, teure Krebsmedikamente im Wert von $93 Millionen an sogenannte „Partnerkrankenhäuser“ und „Partnerkliniken“ in Armenien, Kambodscha, die Dominikanische Republik, Äthiopien, Ghana, Haiti, Honduras, Indien, Jamaika, Malawi, Myanmar, Nepal, Nicaragua, Pakistan, Paraguay, Senegal, Tansania und Uganda.
Das mag eine legitime Marketing-Strategie sein, angesichts der erhofften Erschließung von neuen Absatzmärkten für ihre Produkte, doch es gibt einen weiteren Grund für das erwachende Interesse an diesen Ländern: Die Durchführung klinischer Studien…
--- Die Fortsetzung des Artikels folgt in der nächsten Ausgabe ---
Wortschatz
Eindämmungspolitik = Containment-Politik oder Eindämmungspolitik wurde seit 1947 von den USA gegenüber der UdSSR durchgeführt und charakterisiert das Auseinanderbrechen der Anti- Hitler-Koalition. Ziel war es, die Ausbreitung des Kommunismus und Stalinismus einzudämmen. Q: Wikipedia.
Kobaltkanone = Kobaltkanone oder Kobaltbombe waren populäre Bezeichnungen für Strahlentherapiegeräte, die als Quelle ihrer Gammastrahlung das Radionuklid Cobalt-60 enthielten. Q: Wikipedia
Inzidenz = Die Häufigkeit von diagnostizierten Neuerkrankungen innerhalb einer definierten Population in einem bestimmten Zeitraum. Q: Doc Check
Stahl, Strahl und Chemie = Die drei Säulen der Krebstherapien. Stahl: Operation (das chirurgische Messer)
Circulus Vitiosus = Teufelskreis
Fußnoten
1 Die Redaktion verurteilt selbstverständlich jede zitierte rassistische Aussage, die ausschließlich zur Darstellung der herrschenden Situation erwähnt wird.
2 siehe A. Bleyer, et.al., “Effect of Three Decades of Screening Mammography on Breast-Cancer Incidence”, in: The New England Journal of Medicine, 22.11.2012
Empfohlene Literatur
Ellen Leopold, Under the Randar: Cancer and the Cold War, N.B., N.J, London: Rutgers University Press 2009
Über den Autor
Dr. Thanasis Bagatzounis verließ Anfang der 1980er Jahre seinen Geburtsort Kozani, um eine internationale Fußballkarriere im Ausland aufzubauen; schließlich wurde aus ihm ein promovierter Arzt für strahlentherapeutische Onkologie (Uni Erlangen / Uni Würzburg). Er befasst sich seit 30 Jahren intensiv mit gesundheitspolitischen−und medizinethischen Themen. Momentan schreibt er ein Buch über seine Erlebnisse als Krebsarzt in Deutschland und Zypern. Um das Gleichgewicht zu bewahren, spielt er Gitarre und beschäftigt sich mit Kunst und Kultur. Seine ehemalige Galerie für politische Kunst in Hamburg erlangte ein durchweg positives Presseecho. Er lebt und arbeitet in München.
Herzlichen Dank an Nannette Remmel.
Ihre anregenden Kommentare bringen immer neuen Schwung in den Schreibprozess.
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